Montag, 21. Juni 2010

Malaysian Punctuality



“Malaysian Punctuality” oder zu deutsch “malaysische Pünktlichkeit” ist eine regional bekannte Terminologie, die eigentlich die entscheidenden Kriterien für das stilistische Mittel eines Paradoxons erfüllt. Zwei Begriffe, die in ihrem Grundverständnis eigentlich nicht zueinander passen, werden hier zu einem illustrativen Ausdruck vereint. Wie ich zudem in den letzten Wochen lernen musste, fallen die Wörter „englisch“ und „Torhüter“ in eben die gleiche Kategorie.
Aber zurück zum Thema. „Malaysian Punctuality“ beschreibt ein Konzept
oder die Situation, dass in diesem Land  eine Verspätung von bis zu 30 Minuten eigentlich gar nicht wirklich als solche aufgefasst wird. Viel eher ist es hier absolut toleriert, wenn nicht sogar „guter Ton“, zu jedem seiner Termine 30 Minuten zu spät zu kommen. Für die paradoxe Begrifflichkeit an sich bedeutet das also, dass es hier im europäischen Verständnis gar keine echte Pünktlichkeit gibt oder aber, dass ein Malaysier nahezu niemals pünktlich ist. Natürlich ist hier auch vor einer zu großen Verallgemeinerung abzusehen. Wer hier arbeitet und ständig unpünktlich ist, mag Glück haben und hier im Rahmen des malaysischen Zeitgefühls gar nicht auffallen, aber natürlich gibt es auch immer wieder Leute, die in ihrem persönlichen Style Pünktlichkeit verkörpern. Kurios aber wahr: Individualisten in Malaysia sind pünktlich!

Wer mich nun kennt und schon das ein oder andere Mal Termine mit mir wahrnehmen musste, ahnt es vielleicht: Ich habe hier mein Königreich gefunden! Es ist nahezu so, als wäre ich hier aufgewachsen und meine chronische Unpünktlichkeit in Deutschland ist nichts weiter als eine kulturelle Hürde, die ich bislang noch nicht überwinden konnte.
Ich nutze hier hin und wieder ein Beispiel um die zeitbedingten Gepflogenheiten in Deutschland und Malaysia vergleichend zu illustrieren: Man nehme nur einmal das Szenario „10 Minuten zu spät zur Vorlesung“. Ist man an der BiTS in Deutschland 10 Minuten zu spät (das passiert einem Prototyp-Stundenten wie mir natürlich niemals!) bekommt man beim Betreten des Raumes von den meisten der Dozenten erst einmal einen bösen Blick. Die Atmosphäre unter den Kommilitonen schwankt zwischen Leuten,  die die Verspätung gar nicht wahrnehmen und denen, die diese mit Anfängen von Abneigung auffassen. Hin und wieder bekommt man auch einmal ein ironisch zustimmendes Nicken aus der Masse, das „Oh, der feine Herr hat es doch noch geschafft“ kommuniziert und war die Nacht zuvor eine gehörige Studentenparty, bekommt man auch schon mal ein restalkoholbedingtes „Heeeeey!“ zu hören. Alles in allem bedeuten diese 10 Minuten für den verspäteten Studenten in Deutschland das Vorbereiten/Ausdenken einer Ausrede („Entschuldigung, mein Wecker hat nicht geklingelt“ oder „Sorry, aber vor mir fuhr ne Frau“) oder das Vermeiden jedes erdenkliches Geräuschs auf dem Weg in die letzte Reihe – mit gesenktem Kopf versteht sich.
Nun gut. Ist man hier pünktlich zu einer seiner Vorlesung, kann es auch sein, dass man die Tür zu einem dunklen Raum öffnet und sich erst einmal fragt, ob man denn überhaupt im richtigen Stockwerk nach seiner Vorlesung sucht. Ist man sich dessen absolut sicher, macht man das Licht und die Klima-Anlage an, sucht sich einen Platz und döst in der hinteren Reihe vor sich hin, während die Kommilitonen und Dozent nach und nach eintrudeln. Natürlich sind das seltene Szenarien. Aber man ist schon hin und wieder überrascht, wenn 10 Minuten nach Vorlesungsbeginn lediglich 3 von 30 Leuten in einem Raum findet und die Klasse am Ende der Veranstaltung nahezu vollständig anwesend ist.

Nun hat dieser Umstand nicht nur Vorteile. Mein Studienprogramm wird zum Beispiel in Australien entwickelt und geschrieben, von der Curtin University of Technology. Und da die Australier sich im Laufe der Jahre schon ein wenig  mit den Gepflogenheiten im malaysischen Studentenleben befasst haben, haben sie auch die Stundenpläne entsprechend angepasst. So kann es schon mal sein, dass der ein oder andere Unit-Coordinator für eine Vorlesung in Malaysia 2 Stunden einplant, während er die gleiche Vorlesung auf dem Australischen Campus gerade mal mit einer Stunde ansetzt. Nicht zu Unrecht muss ich sagen. Zumal die meisten Dozenten das Konzept durchblicken und die Studenten gehen lassen, wenn das Programm vor Ablauf der 2 Stunden abgearbeitet ist. Allerdings gibt es auch jene, die sich mit dieser Zeitplanung genötigt fühlen zwei Stunden ununterbrochen zu reden, auch wenn ihnen nach knapp 70 Minuten die Slides ausgehen. (International Marketing war ein Horror dieses Semester!)

Ein relativ kurioses Phänomen in Bezug auf „Malaysian Punctuality“ sind die Gegenmaßnahmen, die die Einheimischen hier treffen um ihre Verspätungen in Grenzen zu halten. Die Uhren (Armbanduhr, Auto, etc.) eines fast jeden Studenten hier gehen zwischen 10 und 20 Minuten vor. Die Psychologie hinter diesem Trick wird mir fast jeden Morgen aufs Neue klar, wenn ich aufwache und mein Puls beim Blick auf die Uhr von Knapp-über-Koma auf 100m-Sprint-Niveau in die Höhe schnellt. Wenn man das oben beschriebene Szenario jetzt aber in Betracht zieht, stellt sich für mich nur die folgende Frage: Funktioniert dieser Trick hier einfach nicht oder verhindert er wohlmöglich sogar noch größere Verspätungen?

Ein sehr schönes Beispiel in diesem Kontext ist mein Uni-Kollege Jun Shiong! Seine Uhr geht 15 Minuten vor. Wenn ich ihn auf dem Campus nach einer meiner Vorlesungen treffe, verlaufen unsere Dialoge meist erschreckend identisch:

Ich: „Hey. Keine Vorlesung mehr?“
Jun: “Doch. Um 12 Uhr!
Ich:  “Aber es ist 12.15 Uhr!“
Jun: „Ich weiß! Sollen wir Mittagessen gehen?“

Jun Shiong ist eigentlich an sich schon ein sehr stereotypischer malaysischer Charakter. Immer wenn ich ihn sehe isst er irgendwas oder hat Hunger und redet vom Essen. Aber das ist eine Geschichte für ein anderes Mal.


Nun ist Malaysia ja bekanntlich ein Land vieler verschiedener Kulturen: Malays, Chinesen, Inder und Indonesier gehören zum gesellschaftlichen Stammpersonal, während auch viele Europäer, Koreaner, so wie Australier zum Arbeiten hierher kommen. Dass nicht alle diese Kulturen ihre Gewohnheiten dem malaysischen Raum-Zeit-Kontinuum anpassen ist irgendwo vorherzusehen. Besonders deutlich wurde mir dies zuletzt, als ich mit Viktor und Keong zum Clubbing verabredet war. Vorab bleibt zu erwähnen, dass man in Keongs Heimatland Südkorea Pünktlichkeit als ebenso tugendhaft ansieht wie in Deutschland. Organisiert hat das Treffen aber Viktor, der ja bekanntlich aus Malaysia kommt. Der ausgemachte Treffpunkt war ein Starbucks in meiner näheren Umgebung. Die Uhrzeit, die Keong und ich per SMS erhalten hatten, war 20 Uhr am Abend. Im Resultat war Keong pünktlich um 20 Uhr da. Ich war gegen 20.30 Uhr da (ich sehe mich diesbezüglich nicht als „typisch deutsch“) und Viktor hat es immerhin geschafft um 20.45 Uhr anzukommen.
Während ich und Keong 15 Minuten zusammen gewartet haben, hat er mir erklärt, dass er in seinen sechs Jahren in Malaysia vor allem eines lernen musste: „Patience“, also Geduld. Gemessen an der angepissten Art, die er Viktor entgegengebracht hat,  als dieser gerade angekommen war, würde ich aber behaupten, dass Keongs Integrationsprozess hier noch längst nicht abgeschlossen ist.

Ich hingegen bin sehr anpassungsfähig, zumindest wenn man meinem Dozenten in Strategic Marketing glauben darf. So bin ich vor einigen Wochen solide 30 Minuten zu spät zu seinem Tutorial gekommen, kurz eingenickt (das Tutorial war für 10am angesetzt – unmenschlich!) und alle Fragen gut beantwortet. Als er dann vorschlug, das Tutorial Essay für die nächste Woche in der übrigen Zeit schon gemeinsam zu besprechen, musste ich feststellen, dass ich dieses versehentlich schon in der Nacht zuvor angefertigt hatte. Ebenso ging es im Übrigen auch Jun Shiong. Ökonomisch wie ich bin habe ich dann gefragt, ob wir beiden dann denn nicht schon gehen könnten. Taktisch unklug, wenn man meine vorherige Performance zugrunde legt, ich weiß. Statt eines bösen Blickes oder eines blöden Spruchs, entgegnete Mister Ronals jedoch nur in die Klasse: „You guys know what I like about Chris?! – He’s so adaptable!“ Ganz ehrlich: Ich sollte eigentlich den Rest meines Lebens hier studieren …

Das werde ich aber nicht. Ganz im Gegenteil. In 10 Tagen geht es für mich sogar schon zurück in die alte Heimat. Ich hoffe, ich konnte euch hier noch einmal einen kleinen kulturellen Einblick in das malaysische Tagesgeschäft geben. Also, wir sehen uns dann die Tage oder ich schreibe einfach von einer anderen Location.

ChK

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